Der Tod am Anfang

Wenn „alles getan ist“, bleibt für Mütter, die ihr Kind vor der Geburt verlieren, das meiste noch zu tun. Denn ganz vergeht die Trauer nie, glaubt Edith Spanier-Zellmer.

Die Erde nur gestreift

Es spielt keine Rolle mehr, ob die Schwangerschaft heiß ersehnt oder ungeplant, willkommen oder mit zwiespältigen Gefühlen behaftet war. Sobald feststeht, dass ein Baby unterwegs ist, gewinnt es an Bedeutung und verändert das Leben seiner Eltern. Sie stellen sich auf einen neuen Lebensabschnitt ein; je näher der Entbindungstermin rückt, desto mehr sehen seine Eltern ihr Leben, ihre Partnerschaft und ihre beruflichen Ziele in einem neuen Licht. Es ist wirklich, lange bevor es geboren ist.

Und dann, trotz aller medizinischen Diagnostik und aller ärztlichen Kunst, ist plötzlich alles zu Ende. Das Kind stirbt noch vor der Geburt und wird tot zur Welt kommen. Manchmal trifft die Nachricht, dass Ultraschall und Herzton-Wehenschreiber keine Herztätigkeit des Ungeborenen mehr anzeigen, die Mutter völlig unvorbereitet bei einer normalen Kontrolluntersuchung. Oder, schlimmer noch, im Kreißsaal kurz vor der ersehnten Geburt. Die Veränderung im Verhalten und in der Stimme des Arztes nimmt sie wohl wahr, aber die Tragweite seiner Mitteilung kann sie so schnell nicht erfassen. Ein Schockzustand hilft ihr, die „notwendigen“ Dinge wie mechanisch zu erledigen: den Partner zu verständigen, die älteren Kinder „unterzubringen“, den Arbeitgeber zu benachrichtigen, den Krankenhaus-Koffer zu packen, Formulare auszufüllen…

In die größeren Hände Gottes

Irgendwann kehrt dann Ruhe ein, kommt die Nachricht im Herzen an, rückt das Unfassbare bedrohlich näher. Ich soll ein totes Kind zur Welt bringen! Ein Widerspruch in sich, eine ungeheure Zumutung – Gebären heißt doch „Leben schenken“!

In einer solchen Krise überwältigt manche Frauen spontan der Gedanke: Fliehen! Narkose, Kind weg, nach Hause, weitermachen, wo ich vor der Schwangerschaft aufgehört habe! Besonders verständlich ist dieser Reflex bei Frauen, die noch nie einen nahen Menschen verloren haben. Aber so verständlich der Wunsch auch ist, die Flucht gelingt selten. Zu lebendig war das kleine Wesen schon im Bauch der Mutter, zu präsent im Leben seiner Eltern. Das werdende Kind hat sich seinen Platz erobert – und der wird leer bleiben.

Also müssen die Eltern sich der schmerzlichen Erfahrung stellen, um damit langfristig besser leben zu können. Gute Ärzte, Hebammen und Schwestern, die fürsorglich und gesprächsbereit sind, können dazu erste Hilfe leisten. Sie wissen, was Eltern jetzt gut tut, ermutigen sie, das tote Kind in den Arm zu nehmen und mit ihm zu sprechen. Das ist schmerzlich, aber auch heilsam. Hilfreich sind auch ein Fußabdruck, ein paar Fotos, eine Kerze: Erinnerungen an die kurzen, kostbaren Momente, in denen dieses Kind die Erde gestreift hat. Vielen Eltern hilft es auch, wenn ein Seelsorger das tote Kind in einer kleinen Segensfeier begrüßt, verabschiedet und in die größeren Hände Gottes legt. Gut, wenn auch die älteren Geschwister, die Großeltern und enge Freunde der Familie dabei sind. Gerade Kinder lernen so das Unbegreifliche zu begreifen; sie werden zu Zeugen, dass es dieses Kind wirklich gibt und wie groß und schmerzlich sein Verlust ist.

„Ich weiß, warum du traurig bist – das Baby!“

Eine Sechsjährige fragte mich bei einer solchen Feier, ob denn sein Brüderchen im Himmel noch wachsen könne… Andere Kinder schenken dem Geschwisterchen von ihren Spielsachen oder malen ihm ein Bild. Ein Dreijähriger meinte beim Anblick des schönen toten Babys empört, er wolle aber mit ihm spielen, und als ich ihm zu erklären versuchte, das Schwesterchen sei tot und könne sich deshalb nicht bewegen, wandte er sich halb fordernd, halb flehend an seine Mutter: „Mama, neues Baby machen!“ Trotz ihres Schmerzes musste sie lachen. Später erzählte sie mir, dass der Kleine immer, wenn sie traurig war, zu ihr kam und sie streichelte: „Ich weiß, warum du traurig bist – das Baby!“ Das habe ihr sehr geholfen und dazu beigetragen, dass die Familie offen über den Verlust sprechen konnte. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, ist für Geschwisterkinder viel schlimmer zu ertragen als die Erfahrung: Wir sind alle zusammen traurig.

Noch im Krankenhaus müssen die Eltern entscheiden, wie das tote Kind bestattet werden soll: zusammen mit anderen früh verstorbenen Kindern in einem Gemeinschaftsgrab bei der Klinik oder in einem Familiengrab? Dann kommt der schwere Weg nach Hause, wo vielleicht die Wiege und der Wickeltisch warten und die Nachbarn noch nicht wissen, was passiert ist. Manche Mutter möchte alles, was sie für das Kind vorbereitet hat, noch eine Zeit lang bewahren, andere möchten alles weggeräumt haben, bevor sie aus der Klinik zurückkommen; ein „Richtig“ oder „Falsch“ gibt es dabei nicht. Oft sind die Väter oder die Großeltern in solchen praktischen und organisatorischen Erledigungen eine große Hilfe.

Ganz vergeht die Trauer nie

Eine behutsame Trauerfeier ist für viele Eltern Salböl auf die verwundete Seele. Und dann, wenn scheinbar alles getan ist, bleibt das meiste übrig: die Trauer, der Schmerz, der Zorn und viele unbeantwortete Fragen. Wohin damit? Eine Frau, die gerade Mama geworden ist – Mama ohne Kind – ist mit sich selbst, ihrer Leere, ihren Selbstzweifeln, ihren unbändigen Gefühlen beschäftigt, Gefühlen, die sie auch ganz unmittelbar als körperliche Wunde spürt. Sie braucht jetzt beides: Zuwendung und Anteilnahme, aber auch die Möglichkeit zum Rückzug. Viele Väter spüren schmerzlich ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit, ihre Frauen

zu stützen. Im Vergleich zu ihnen achten sie den eigenen Verlust oft gering; zu gerne würden sie den Kummer ihrer Frauen lindern, etwas tun oder sagen, was sie tröstet, ein Stück normales Leben für sie zurückerobern. Doch die unterschiedliche Nähe von Frau und Mann zu dem Ungeborenen und ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten, Einstellungen und Vorerfahrungen bringen auch eine je andere Art zu trauern mit sich. Das ist normal, aber auch heikel. Missverständnisse lauern, wo niemand sie vermutet. Was vorher leicht war, wird plötzlich kompliziert. Verletzungen bleiben nicht aus, Beziehungen drohen aus dem Tritt zu geraten. Manchmal erschüttert der frühe Verlust eines Kindes das Leben so sehr, dass es sinnvoll und notwendig wird, professionelle Hilfe zu suchen. Schwangerschaftsberatungsstellen, Trauerbegleiter und erfahrene Familienseelsorger können Paaren dann helfen, die andere Trauer des anderen zu respektieren und sich gemeinsam in das Leben danach vorzutasten. Mit neuen Aufgaben, die sich den Paaren stellen und Aufmerksamkeit erfordern, werden Trauer und Schmerz um das verstorbene Kind sich wandeln und ein Stück weit zurücktreten. Aber ganz vergehen werden sie nie.

Edith Spanier-Zellmer